Ulrich
van Aaken

Fachartikel

europiano, 1985 (Erstpublikation in »Der Blinde Klavierstimmer«):

Der Steinway-Stimmzirkel von e–e'

Ulrich van Aaken (Mitglied des BDK)

Der Stimmzirkel von e—e‹ ist eine von zahlreichen Möglichkeiten, die Stimmarbeit in einem anderen Raum als dem von a—a‹ zu beginnen, ohne dabei Temperaturgesetzmäßigkeiten zu mißachten oder eine eigene Tonartencharakteristik zu schaffen. Denn auch bei diesem Zirkel, der mit der Terz f—a beginnt und manchem als sog. Steinway-Stimmzirkel bekannt sein dürfte, arbeitet man im Rahmen des kleinen Quintenzirkels.
Der Unterschied zur Temperatur von a—a‹ liegt darin, daß

a) drei große Terzen als direkte Stimmintervalle eingesetzt werden;
b) die Stimmreihenfolge abgeändert ist und
c) der Zirkel eine Quart tiefer liegt,

wodurch sich die Terzschwebungen deutlich verlangsamen und auch kleine Terzen als Kontrollintervalle interessant werden.

Diese Merkmale haben zur Folge, daß man nach jedem Stimmschritt — und zwar von Anfang an — eine oder mehrere verläßliche Proben erhält und somit nicht längere Zeit in einem quasi »orientierungslosen« Raum arbeiten muß.

Bei der Beurteilung einer Temperatur gilt in allen Stimmsystemen für die Gleichschwebung die Terz als sicherer Qualitätsmaßstab; was liegt also näher, als ihre Schwebung direkt in die Temperaturbildung mit einzubeziehen und ihre Schwebungskette kontinuierlich aufzubauen?

Die Terz hat zudem den Vorzug, daß auch der Anfänger sie sicherer einschätzen kann. Mit Quint und Quart tut er sich dagegen manchmal schwer, weil die eigentliche »wichtige« Schwebung, mit der man arbeitet, von anderen Schwebungen überlagert sein kann, sodaß man schneller Gefahr läuft, die charakteristische Schwebung ganz zu verlieren. Manche legen ihr Ohr dann mehr ans Instrument, horchen dem Klang sehr lange nach, senken schließlich die Tonhöhe drastisch ab, um die temperaturrelevante Schwebung wiederzufinden und beginnen von Neuem. Die Schwebung der Terz dagegen ist sehr deutlich (und unmißverständlich) wahrnehmbar; sie »steht« sofort nach dem Tastenanschlag und bietet kaum Möglichkeiten, in die falsche Richtung (also etwa eine weite an Stelle der erforderlichen engen Quinte) zu temperieren.

Bei Instrumenten bestimmter Größenordnung spielen die Vorbehalte gegen diesen Zirkel, daß nämlich umsponnene Saiten in die Temperaturoktave mit einbezogen werden müssen, überhaupt keine Rolle. Und kommt dies tatsächlich bei ein oder zwei Choren vor (es sind übrigens wesentlich weniger Instrumente, als man im ersten Augenblick annimmt), dann ist man eben gezwungen, die damit verbundenen Hürden schon bei der Temperatur zu nehmen und nicht erst im Baßbereich, der ja letztendlich die gleiche Qualität wie die Temperatur aufweisen sollte.

Der Stimmzirkel von e—e‹ beginnt mit der siebenmal in der Sekunde schwebenden Terz f—a. Ihre Schwebungsgeschwindigkeit kann man nicht oft genug einzuschätzen lernen. Genauso verhält es sich beim Zirkel von a—a‹, wo man auch mit den Schwebungsgeschwindigkeiten der Sext a—Fis‹ oder der Terz d‹—fis‹, die allerdings erst über fünf Stimmschritte erreichbar sind, vertraut sein muß.
Den möglichen Einwand, dieses Anfangsintervall f—a sei eine Schwachstelle bei diesem System, weil zuviel von ihm abhänge, möchte ich nicht gelten lassen, da die Terz nicht isoliert steht, sondern in ein Schwebungsgeflecht eingebunden wird.

1. Stimmschritt

Man legt vom a eine große Terz abwärts das f mit 7 Schwebungen fest. Ist man in der Beurteilung unsicher, werden zunächst die nachfolgenden Stimmschritte vorgezogen. Die sich daraus ergebenden Kontrollen helfen uns, die Anfangsterz richtig einzustimmen.

2. Stimmschritt

Von a stimmt man das eingestrichene d‹. Dadurch erhält man die Kontrollsext f—d‹, die 8 mal pro Sekunde schwebt.

3. Stimmschritt

Zum f stimmen wir das b. Die sich daraus ergebenden 9 Schwebungen der Terz b—d‹ komplettieren unsere »7—8—9er Schwebungskette«. Wir verfügen jetzt über einen Kontrollmaßstab, der uns eine eventuelle Korrektur des bisher Gestimmten anzeigen kann: Die Schwebungen (7—8—9) müssen gleichmäßig anziehen, die beiden Quarten (f—b und a—d‹) sind entsprechend größer als rein. Ist dies aber nicht der Fall und war beispielsweise f—a vom 1. Stimmschritt zu langsam, dann ist auch die Sext f—d‹ zu langsam und b—d‹ fällt durch seinen Sprung aus diesem Rahmen. Wir korrigieren also f—a und damit auch f—b und gehen zum nächsten Stimmschritt.

4. Stimmschritt

Von d‹ eine Quarte abwärts zum g. Kontrolle erwächst jetzt aus der kleinen Terz g—b, die 10,5 mal schwebt.

5. Stimmschritt

g—c‹. Die Kontrollmöglichkeiten sind jetzt:
1. Der Ton c‹ muß mit dem kleinen f eine temperierte Quint bilden. (Vergleich zur Nachbarquint g—d‹).
2. f—b und g—c‹ müssen sich als temperierte Quarten mit der für sie charakteristischen Schwebung in den Rahmen einfügen.
3. Die kleine Terz a—c‹ schwebt 12 mal, zieht also gegenüber g—b deutlich an.
Wir verfügen jetzt über sechs gestimmte Töne, die das Fundament unserer Temperatur bilden und von denen die Qualität unseres Stimmzirkels abhängt. In akustischer Feinarbeit werden diese Töne gegebenenfalls so lange korrigiert, bis sie in das Intervall- und Schwebungsgeflecht passen.
Spätestens hier wird auch deutlich, ob wir bei dem Instrument mit seinen individuellen Eigenschaften (Inharmonizität) das Gesamtniveau der anfänglich eingestellten Schwebungsgeschwindigkeit geringfügig verändern müssen.
Ein wiederholtes Zurückkehren zu Intervallen, die man korrekt gestimmt zu haben glaubt, ist ohnehin eine nützliche Hilfe; aufgrund der nachfolgend gemachten »Erfahrungen« — auch wenn es sich nur um ein paar Stimmschritte handelt — erscheint ein zuvor eingerichtetes Intervall bei erneutem Abschätzen gelegentlich in einem anderen (richtigen) Licht.

6. Stimmschritt

Vom kleinen b stimmt man abwärts eine große Terz und bekommt fis—b mit 7,5 Schwebungen.

7. Stimmschritt

Es folgt die Quarte fis—h. Sie ist mit den Quarten f—b und g—c‹ zu vergleichen. Die jetzt neu gewonnene Terz g—h baut unsere Terzenkette weiter auf: f—a, fis—b, g—h. Zusätzlich können wir die 8 Schwebungen von g—h mit denen der Anfangssext f—d‹ (8 Schwebungen) vergleichen.

8. Stimmschritt

Von h stimmt man den Ton e‹ und überprüft, ob dadurch auch die Quinte a—e‹ temperiert ausfällt (Vergleich mit g—d‹). Die 10,5 Schwebungen dieser neuen Terz c‹—e‹ (vergleichbar mit der kleinen Terz g—b vom 4. Stimmschritt) stecken den Schwebungsrahmen ab, in dem sich die Großterzen bewegen dürfen. Und weil es gut in der Hand liegt, kann man das e‹ auch noch in verschiedenen Intervallkombinationen beleuchten: c‹—e‹, h—e‹, a—e‹ und g—e‹, wobei diese Sext (9 Schwebungen) mit der Terz unseres Fundaments verglichen wird (b—d‹ = 9 Schw.).
Die zunächst verwirrend erscheinende Reihenfolge im Stimmzirkel von e—e‹ erweist sich somit als praktische Hilfestellung, weil man durch die zahlreichen Querverbindungen in seiner Vorgehensweise immer wieder bestätigt werden kann.

9. Stimmschritt

Oktavversetzung e‹—e. Kontrolle durch e—a und e—h und den Anschluß an die Quint- und Quartkette, also: e—h, f—c‹, g—d‹ bzw. e—a, f—b, fis—h, g—c‹.

10. Stimmschritt

Von e stimmt man das letzte Mal eine große Terz, und zwar aufwärts zum gis. Dieses gis bringt uns gleichzeitig die Terz gis—c‹ mit 8,5 Schwebungen, sodaß unsere Terzenkette bis auf zwei Lücken geschlossen ist.

11. Stimmschritt

gis—cis‹ mit Terz, Quint und Sext als Kontrolle.

12. Stimmschritt

Der Stimmzirkel schließt sich durch das Intervall b—es‹.



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